Onlinesingen Studie
Studienergebnisse – deutsche Übersetzung
(Schäfer, T. (2023). The positive effects of online group singing on psycho-physiological variables during the COVID-19 pandemic—A pilot randomized controlled trial. Applied Psychology: Health and Well-Being, 1– 18. https://doi.org/10.1111/aphw.12435
Die positiven Auswirkungen von Online-Gruppensingen auf psychophysiologische Variablen während der COVID-19-Pandemie – eine randomisierte kontrollierte Pilotstudie.
ZUSAMMENFASSUNG
Die psychologischen Variablen, die durch die soziale Distanzierung während der COVID-19-Pandemie besonders beeinflusst wurden – Stress, Einsamkeit, soziale Teilhabe und Wohlbefinden – entsprechen weitgehend den Variablen, die auch durch Musik beeinflusst werden können. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine randomisierte, kontrollierte Pilotstudie, in der die Auswirkungen von Online-Gruppensingen auf psycho-physiologische Variablen während der Pandemie untersucht wurden.
Über einen Zeitraum von vier Wochen sang eine Online-Gesangsgruppe einmal wöchentlich eine Stunde lang unter der Anleitung einer professionellen Stimmcoachin zusammen. In einer ersten Kontrollgruppe trafen sich die Teilnehmer ebenfalls 60 Minuten pro Woche, diskutierten aber nur über persönliche Erfahrungen mit Musik und tauschten diese aus.
Eine zweite Kontrollgruppe bestand aus einer Wartelisten Gruppe. Bei allen untersuchten Variablen (positiver und negativer Affekt, Lebenszufriedenheit, Stress, Einsamkeit, soziale Teilhabe, Selbstwirksamkeit und Körperwahrnehmung) zeigten sich positive Effekte in der Singgruppe und in der Diskussionsgruppe, nicht aber in der Wartelisten Gruppe.
Die Effekte der Variablen Selbstwirksamkeit, soziale Teilhabe, Einsamkeit und Lebenszufriedenheit waren in der Singgruppe deutlich stärker als in der Diskussionsgruppe.
Die Ergebnisse zeigen die Wirksamkeit des Gruppensingens auf eine Reihe von psychophysiologischen Variablen, die in und außerhalb von Krisenzeiten sowohl im klinischen als auch im nicht-klinischen Umfeld gewinnbringend eingesetzt werden können.
EINFÜHRUNG
Musik verbindet. Obwohl die evolutionären Ursprünge der menschlichen Musikalität – das Komponieren, Musizieren und Hören von Musik – nicht abschließend geklärt sind, ist es wahrscheinlich, dass Musik im Laufe der Geschichte soziale Interaktionen harmonisierte und als „sozialer Kitt“ fungierte. Musik könnte dazu beigetragen haben, Gruppenaktivitäten zu koordinieren, soziale Identität und Abgrenzung zu vermitteln und vorsprachliche Kommunikation zu ermöglichen, was vielleicht zum Überleben unserer Vorfahren beigetragen hat (Huron, 2001; Koelsch, 2013). Der Nachhall dieser biologisch nützlichen Verwendung von Musik ist immer noch deutlich sichtbar, da soziale Verbundenheit als eine der grundlegenden Dimensionen der Verwendung von Musik im Alltag gilt (Schäfer et al., 2013). Die verbindende Rolle der Musik in Zeiten der Krise oder Bedrohung kann durch ihre besondere Bedeutung während der COVID-19-Pandemie bestätigt werden. In Zeiten sozialer Distanzierung traten die Menschen auf ihre Balkone und begannen zu singen und Instrumente zu spielen, worauf eine soziale Antwort in Form von spontaner Teilnahme und Applaus folgte. Hier signalisierte musikalische Verbundenheit menschliche Verbundenheit, Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit – in vielen Ländern weltweit, was die universelle Natur sozialer Verbundenheit durch Musik widerspiegelt. Neben der sozialen Komponente wird Musik auch zur Selbstregulierung und zur Regulierung von Stimmung und psychophysiologischer Erregung eingesetzt (Schäfer et al., 2013). Diese beiden Nutzungsarten waren während der Pandemie besonders ausgeprägt, da zahlreiche schädliche Umstände häufig dazu führten, dass die Menschen mehr Stress, geringere Lebenszufriedenheit, weniger positive Affekte und mehr Sorgen und Ängste erlebten. Über die sozial verbindenden Eigenschaften hinaus haben Studien auch gezeigt, dass die Pandemie auch die Nutzung von Musik intensivierte, insbesondere in Bezug auf das Musikhören (Fink et al., 2021; Ziv & Shabtai, 2021).
Ziel der vorliegenden Studie war es, aufbauend auf diesen Erkenntnissen zu untersuchen, ob die beschriebenen positiven Auswirkungen von Musik spezifisch stimuliert werden können, indem Einzelpersonen die Möglichkeit geboten wird, während der Pandemie online gemeinsam zu singen. Hier präsentieren wir eine kontrollierte, randomisierte Prä-Post-Studie zu den Auswirkungen der Teilnahme an einer Online-Singaktivität in Deutschland im Jahr 2021.
DIE POSITIVEN AUSWIRKUNGEN DES SINGENS
Alltägliches nicht-professionelles Singen, ob allein, mit der Familie, mit Freunden oder in einem Laienchor, wird mit zahlreichen psychologischen und physischen Variablen in Verbindung gebracht. Besonders gut dokumentiert sind Verbesserungen der allgemeinen Stimmung, des positiven Affekts, der positiven psycho physiologischen Erregung und des subjektiven Wohlbefindens sowie eine Verringerung negativer Affekte wie Angst (Grape et al., 2002; Kreutz et al., 2004; Sanal & Gorsev, 2014; Unwin et al., 2002; Valentine & Evans, 2001). Eine Steigerung des subjektiven Wohlbefindens wurde auch in einzelnen Studien mit messbaren Erhöhungen des Oxytocinspiegels beobachtet, der als biologischer Marker für ein erhöhtes Gefühl der sozialen Verbundenheit gilt (Kreutz, 2014).
Im Vergleich zum Sologesang führt das Singen in einer Gruppe oft schnell zu einem Gefühl der sozialen Verbundenheit (Pearce et al., 2015). Auch die Steigerung des Wohlbefindens ist beim Singen in einer Gruppe stärker ausgeprägt (Stewart & Lonsdale, 2016). In einer der wenigen Langzeitstudien, die zu diesem Thema durchgeführt wurden, fanden Linnemann et al. (2017) ebenfalls eine stärkere Verbesserung der Stimmung und einen ausgeprägteren Stressabbau als Folge des Chorsingens. Allerdings wurden keine Unterschiede zwischen Chor- und Sologesang in Bezug auf die Zunahme von Glücksgefühlen und die Abnahme von Sorgen und Traurigkeit festgestellt (Schladt et al., 2017). Die Ergebnisse einer qualitativen Studie mit Chorsängerinnen und -sängern umfassten zudem eine Zunahme der erlebten Verbundenheit sowie physiologische Vorteile (z. B. bessere Atmung), kognitive Stimulation, Freude und Transzendenz (Moss et al., 2018).
Bei älteren Menschen wurde das Singen mit positiven Auswirkungen auf Schmerzen, Schlafqualität und Demenz in Verbindung gebracht (siehe Wan et al., 2010) sowie mit einer besseren allgemeinen Gesundheit, wenn sie in Laienchören aktiv sind (im Vergleich zu professionellen Chorsängern; Pentikäinen et al., 2021). In einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) zeigten Galinha et al. (2022) eine signifikante Steigerung des Wohlbefindens, des positiven Affekts und des Selbstwertgefühls bei älteren Teilnehmern.
Zu den gut dokumentierten physiologischen Wirkungen des Singens gehören die Stärkung der Atemmuskulatur und die Optimierung der Atmung sowie ein Anstieg der Konzentration von Oxytocin und Endorphinen, was als Indikator für eine verbesserte Immunabwehr und ein besseres Wohlbefinden gilt (siehe Kang et al., 2018). In ähnlicher Weise wurden auch eine Verringerung der allgemeinen physiologischen Anspannung und ein Anstieg der Herzfrequenz beobachtet (Grape et al., 2002; Valentine & Evans, 2001). Eine offene Umfrage mit einer qualitativen Auswertung ergab positive Auswirkungen auf Atmung und Lungenfunktion, Körperhaltung und Körperkontrolle, Entspannung und Stress sowie das Energieniveau innerhalb einer Stichprobe von Chorsängern (Clift et al., 2009; siehe auch Moss et al., 2018).
Diese Ergebnisse zeigen vielversprechende, positive psychophysiologische Effekte des Singens. Es ist jedoch zu beachten, dass die methodische Qualität dieser Studien sehr heterogen ist, wobei methodisch anspruchsvolle Studiendesigns (RCTs, Längsschnittstudien) noch die Ausnahme sind (siehe auch Habibi et al., 2022; Reagon et al., 2016). Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Studie ein RCT durchgeführt.
DIE PSYCHOLOGISCHEN HERAUSFORDERUNGEN WÄHREND DER PANDEMIE
Während der gesamten COVID-19-Pandemie führten die zahlreichen Abriegelungen und „sozialen Distanzierung Maßnahmen“ zu großen Herausforderungen für die Bürger. Neben den wirtschaftlichen Belastungen standen auch psychische Belastungen im Mittelpunkt vieler neuerer empirischer Studien. Befunde im Kontext der Pandemie zeigen eine Zunahme von Depressionen und Ängsten sowie eine Abnahme der allgemeinen Lebenszufriedenheit und der Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit (Ammar et al., 2020; Hettich et al., 2022; Pandya & Lodha, 2021). In einem Land wie Deutschland mit fast 17 Millionen Ein-Personen-Haushalten wurde in dieser Zeit auch die Einsamkeit zu einer stark erforschten Variable, da sie den Gegenpol zur sozialen Verbundenheit bildet und ein sozial-emotionaler Bestandteil des persönlichen Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit ist. Studien haben gezeigt, dass Einsamkeitsgefühle infolge sozialer Distanzierung deutlich zunehmen (Entringer & Kröger, 2021; Lippke et al., 2022), da die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe abnehmen. Soziale Teilhabe bezieht sich auf die Möglichkeit des autonomen und selbstbestimmten Zugangs zu Orten, Gemeinschaften und Aktivitäten, die dem persönlichen Ausdruck, der Kommunikation, der persönlichen (kreativen) Entwicklung und der Rezeption von Kunst und Kultur in Gruppen dienen. Da Lebensqualität, Chancengleichheit und Selbstentfaltung im Vordergrund der sozialen Teilhabe stehen, werden diese Aspekte durch soziale Distanzierung Maßnahmen stark eingeschränkt. Zudem sind die genannten Variablen nicht unabhängig voneinander: Studien haben gezeigt, dass Einsamkeit einen negativen Einfluss auf die körperliche Gesundheit, die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefinden hat (Hawkley et al., 2003; Hawkley & Cacioppo, 2010; Luo et al., 2012; Park et al., 2020). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass diese Variablen während der Pandemie zusammenhingen.
Die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung wurden von einem Großteil der Bevölkerung als Stressoren empfunden, was zu einem erheblichen Anstieg des wahrgenommenen Stressniveaus führte, das kürzlich als „COVID-Stress-Syndrom“ bezeichnet wurde (Brooks et al., 2020; Taylor et al., 2020). Die langfristigen psychologischen Folgen der Maßnahmen (insbesondere im Hinblick auf chronischen Stress, Belastungsstörungen, Ängste und Depressionen) lassen sich noch kaum abschätzen. Taylor (2019) argumentiert sogar, dass die psychologischen Folgen der Pandemie langfristig weitaus größer sein könnten als die medizinischen Folgen.
DAS POTENZIAL DES ONLINE-SINGENS WÄHREND EINER PANDEMIE – ZIEL DER VORLIEGENDEN ONLINESINGEN STUDIE
Die Absicht, die vorliegende Studie im Zusammenhang mit pandemiebedingten Herausforderungen durchzuführen, beruhte auf der vielversprechenden Forschung über die Auswirkungen des Singens. Ein methodisch valides Design (kontrolliert und randomisiert) wurde verwendet, um die bereits vorhandenen Erkenntnisse über die spezifischen Auswirkungen von Gruppensingen zu stärken. Es wurde eine Reihe von psychophysiologischen Variablen verwendet, die in Vorstudien relevant erschienen.
Ziel der Studie war es, zu untersuchen, ob das Gruppensingen zu einer bedeutsamen Verbesserung von Variablen führen kann, die durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung negativ beeinflusst wurden.
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie kann argumentiert werden, dass die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung vor allem soziale Aspekte (soziale Teilhabe und Einsamkeit) negativ beeinflussten, was zu weiteren psychischen Beeinträchtigungen (Depressivität, Ängstlichkeit und Verminderung des Wohlbefindens) führte. In der Einleitung haben wir auf die besondere Rolle der Musik als „sozialer Kitt“ hingewiesen. In ähnlicher Weise hat Koelsch (2013, S. 204) sieben soziale Funktionen von Musik identifiziert: „Individuen haben Kontakt mit anderen Individuen, betreiben soziale Kognition, nehmen an Co-Pathie (der sozialen Funktion der Empathie) teil, kommunizieren, koordinieren ihre Handlungen und kooperieren miteinander, was zu einem erhöhten sozialen Zusammenhalt führt.“ Diese sozialen Funktionen der Musik sind Teil von insgesamt über 100 verschiedenen Funktionen, die empirisch gefunden wurden und können unter drei grundlegenden Dimensionen kategorisiert werden: Selbstwahrnehmung (z. B. Identitätsbildung, Bewältigung von Problemen und Emotionen), soziale Verbundenheit (Kommunikation, Ausdruck und Gemeinschaftlichkeit) sowie Stimmungs- und Erregungsregulation (Schäfer et al., 2013). Interessanterweise identifizierte Chiu (2020) mit historischem Bezug z. B. auf die Mailänder Pest dieselben drei musikalischen Funktionen, die in Krisenzeiten wie der COVID-19-Pandemie stark an Bedeutung gewinnen und von den Menschen durch rituelle, manchmal religiös anmutende Praktiken wie das Balkonsingen bewusst genutzt werden: Aufrechterhaltung der Stimmung, sozialer Zusammenhalt und die Nutzung von Musik zur Erlangung von Selbstbewusstsein. Diese Erkenntnisse werden durch eine qualitative Studie über Balkonsingen in Italien von Antchak et al. (2022) gestützt und um den Aspekt erweitert, dass solche gemeinsamen musikalischen Praktiken dem Aufbau sozialer und kreativer Ressourcen dienen. Aus den drei grundlegenden Dimensionen der Musiknutzung lässt sich also das Potenzial der Musik ableiten, die von der Pandemie betroffenen psychologischen Variablen positiv zu beeinflussen: In Bezug auf die Dimension der Selbstwahrnehmung wird erwartet, dass das Singen in der Gruppe den positiven Affekt erhöht, den negativen Affekt verringert, den wahrgenommenen Stress reduziert und die Selbstwirksamkeit erhöht. In Bezug auf die Dimension der sozialen Verbundenheit wird eine Zunahme des Gefühls der sozialen Teilhabe und eine Abnahme der Einsamkeit erwartet. Hinsichtlich der Stimmungs- und Erregungsregulation wird eine Verbesserung der allgemeinen Lebenszufriedenheit erwartet. In Übereinstimmung mit einigen dieser Erwartungen ergab eine neuere qualitative Studie aus dem Vereinigten Königreich, dass das Wohlbefinden gesteigert und das Gefühl der sozialen Identität gestärkt wurde, nachdem man während der Pandemie an einem Online-Chor teilgenommen hatte (Daffern et al., 2021). Allerdings wurde auch eine Verringerung der „Ko-Kreation“ festgestellt, d. h. des Gefühls einer starken körperlichen, emotionalen und sozialen Verbindung mit anderen, die sonst zu Erfahrungen der Transzendenz und der hohen Verkörperung führt, wie sie oft in traditionellen Live-Chören erlebt werden. In Übereinstimmung mit unseren Erwartungen haben frühere Studien gezeigt, dass Variablen wie Selbstwirksamkeit als Resilienzfaktoren fungieren und somit negative psychologische Effekte, die durch stressige Bedingungen verursacht werden, teilweise abfedern (Havnen et al., 2020; Schnell & Krampe, 2020). Die Feststellung, dass die Zeit, die mit dem Hören von Musik verbracht wurde, während der Pandemie messbar zunahm (Ziv & Shabtai, 2021), deutet darauf hin, dass sich viele Menschen der positiven Auswirkungen von Musik bewusst sind und diese nutzen (siehe auch Hennessy et al., 2021). Anhand von Daten aus sechs Ländern auf drei Kontinenten zeigten Fink et al. (2021), dass das musikalische Engagement (Hören und Musizieren) während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 stark zunahm und bewusst als Bewältigungsstrategie eingesetzt wurde. Bei den Befragten zeigten sich differenzierte Strategien: Während ein stärkeres Engagement beim Musikhören eher mit dem Motiv der Trostsuche verbunden war, wurde ein stärkeres Engagement beim Musizieren eher mit dem Motiv der Erzeugung „positiver Affekte wie Entspannung, gute Laune und bedeutungsvolle ästhetische und spirituelle Erfahrungen – Aspekte, die mit Regulationsstrategien wie Erweckung, Unterhaltung und starkes Empfinden in Verbindung gebracht werden könnten“ (S. 9) in Verbindung gebracht.
METHODE
Aufbau der Studie
In einer RCT wurden drei Bedingungen miteinander verglichen: Singen in einer Online-Singgruppe, Diskussion über Musik in einem Gruppenrahmen und eine Kontrollgruppe mit Warteliste. Die Singgruppe stellt die theoretisch interessierende Gruppe dar. Das spezifische Angebot einer Online-Gesangsgruppe wurde von einem professionellen Musikpädagogen und Stimmtrainer entwickelt (www.sing-mit-arianeroth.com). Die Teilnehmer nahmen über eine Videoplattform an der Online-Gesangsgruppe teil. Die Teilnehmer konnten sich gegenseitig als Videokachel auf dem Bildschirm sehen und so ihre körperlichen Bewegungen mit denen der anderen Teilnehmer abstimmen und koordinieren. Die Mikrofone der Teilnehmer blieben für die Dauer des Gesangs stumm, um möglichen Verzerrungen der Audiosignale aufgrund technischer Verzögerungen Rechnung zu tragen und um den Teilnehmern das Gefühl zu geben, mit anderen zu singen. Damit wurde ein niedrigschwelliges Angebot geschaffen und die Teilnahme für eine breite Zielgruppe attraktiv gemacht. Vorkenntnisse im Gruppensingen oder eine „gute Stimme“ waren nicht erforderlich. Der Stimmbildner war jederzeit zu sehen und zu hören und leitete die Singgruppe an. Über einen Zeitraum von 4 Wochen fand das Singen einmal wöchentlich für 60 Minuten pro Sitzung statt. Nach kurzen körperlichen und stimmlichen Übungen sangen die Gruppenmitglieder gemeinsam zu einfachen Popsongs und Gesängen, die im Voraus ausgewählt und vom Coach produziert und gesungen wurden. Zur leichteren Ausführung wurden zu jedem Lied Textvideos gezeigt. Die Teilnehmer wurden ermutigt, im Stehen oder Sitzen mitzusingen und sich nach Belieben zur Musik zu bewegen. Es fanden geführte Reflexionen statt, um Veränderungen im Körper nach dem Singen festzustellen. Die Sitzungen beinhalteten auch Diskussionen und einen persönlichen Austausch über die ausgewählte Musik sowie über persönliche Singerfahrungen. Da einige der vorgeschlagenen Ergebnisse bereits durch das Zusammentreffen und den Gedankenaustausch der Teilnehmer erwartet wurden, wurde eine erste Kontrollbedingung eingeführt. In dieser Diskussionsgruppe trafen sich die Teilnehmer 60 Minuten pro Woche und diskutierten und tauschten persönliche Erfahrungen über Musik aus, wobei sie von demselben Coach moderiert wurden. Ziel dieser Kontrollbedingung war es, die potenziellen Auswirkungen des Gruppensingens in der Behandlungsbedingung zu isolieren. Eine zweite Kontrollbedingung (Wartelistengruppe) wurde gebildet, um die Behandlungseffekte zu quantifizieren. Die Personen in dieser Gruppe nahmen an beiden Fragebögen im Abstand von 5 Wochen teil, erhielten aber zum Zeitpunkt der Studie keine Intervention. Den Teilnehmern der beiden Kontrollgruppen wurde die Teilnahme am Online-Singen nach Ende des Studienzeitraums in Aussicht gestellt. Die Intervention fand im Oktober 2021 statt. Die zweite Sperre endete im Mai 2021. Der Monat Oktober war eine vergleichsweise ruhige Phase der Pandemie mit relativ stabilen Fällen. Die soziale Distanzierung war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Kraft, wohl aber die Hygienemaßnahmen und die Abstände, so dass auch keine Live-Chöre möglich waren. Die Teilnehmer erhielten einen Link zu den Fragebögen per E-Mail und füllten sie online aus. Der erste Fragebogen wurde in der Woche vor Beginn der Intervention verschickt, mit der Bitte, ihn innerhalb der nächsten 2 Tage auszufüllen. Der zweite Fragebogen wurde in der Woche nach der Intervention verschickt, wiederum mit der Bitte, ihn innerhalb der nächsten 2 Tage auszufüllen.
Rekrutierung und Zusammensetzung der Stichprobe
Die Teilnehmer für die Studie wurden über die Website des Stimmcoachs, über ihre Mailingliste, über Werbung in sozialen Medien und über eine Mailingliste der Universität, die Psychologiestudenten umfasste, rekrutiert. In den Einladungen wurden die Personen auch gebeten, den Link zur Studienteilnahme an Freunde und Bekannte weiterzugeben. Insgesamt 74 interessierte Personen meldeten sich für die Teilnahme an der Online-Studie an und erhielten alle weiteren Anweisungen direkt über das Webportal des Coaches. Obwohl eine Stichprobengröße von mindestens 50 Teilnehmern pro Bedingung angestrebt wurde, konnte diese nach wiederholten Aufrufen zur Studienteilnahme nicht realisiert werden. Möglicherweise haben akute pandemiebedingte Zustände zu einer geringeren Teilnahmemotivation geführt. Bei der gewonnenen Convenience-Stichprobe handelt es sich daher nicht um eine Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung, sondern um Personen, die an der Teilnahme an einer Online-Singgruppe interessiert waren und an einer wissenschaftlichen Studie mitwirken wollten. Erwartungseffekte in Bezug auf die gemessenen Variablen können daher nicht ausgeschlossen werden, was die Einbeziehung der Wartelisten-Kontrollgruppe besonders wichtig machte. Stichprobenverzerrungen durch nicht zufällige Ziehungen sind ebenfalls nicht auszuschließen, wurden aber aus Gründen der Wirtschaftlichkeit bei der Rekrutierung der Stichprobe in Kauf genommen. Obwohl vorangegangene Studien darauf hindeuten, dass sich verschiedene Stichproben hinsichtlich der Effekte von Musik nicht signifikant unterscheiden (Schäfer et al., 2013; Schäfer & Riedel, 2018; Schäfer & Sedlmeier, 2010), ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse der vorliegenden Studie eingeschränkt. Die geringe Stichprobengröße und die Verwendung einer Convenience-Stichprobe haben uns schließlich dazu veranlasst, die vorliegende Studie als Pilotstudie zu klassifizieren.
Die 74 eingeschriebenen Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip einer der drei Bedingungen zugewiesen. Die Teilnehmer füllten den Fragebogen (siehe unten) vor Beginn und nach Beendigung der Studie aus, also im Abstand von etwa 5 Wochen. Als Entschädigung für die Teilnahme an der Studie erhielten alle Teilnehmer die ansonsten kostenpflichtige Dienstleistung des Online-Singangebots kostenlos, wobei die Singgruppe während der Studie und die beiden anderen Gruppen nach der Studie betreut wurden. Die Teilnehmer wurden über die Ziele und den Ablauf der Studie informiert und gaben ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme und zur Verarbeitung ihrer anonymisierten Daten. Die Teilnehmer wurden gebeten, einen persönlichen Identifizierungscode zu generieren, damit die anonymisierten Daten zu beiden Erhebungszeitpunkten korrekt demselben Teilnehmer zugeordnet werden können.
Messungen
Die Teilnehmer füllten die folgenden Fragebögen zu beiden Bewertungszeitpunkten aus.
Stress
Zur Erfassung des Stresserlebens wurde die deutsche Version des Perceived Stress Questionnaire (PSQ; Fliege et al., 2009) verwendet. Er besteht aus 20 Likert-Items, bei denen die Befragten gebeten werden, ihre Zustimmung auf einer Antwortskala von 1-4 anzugeben. Der normalisierte Bereich der Gesamtpunktzahl liegt zwischen 0 und 100.
Positiver und negativer Affekt
Zur Erfassung von positivem und negativem Affekt wurde die deutsche Version des Positive and Negative Affect Schedule (PANAS; Breyer & Bluemke, 2016) verwendet. Die Intensität von 10 positiven und 10 negativen Affekten wird auf Likert-Items mit einer Antwortskala von 1-5 erfasst. Die Antworten wurden anschließend gemittelt.
Selbstwirksamkeit
Die Selbstwirksamkeit wurde mit der Allgemeinen Selbstwirksamkeits-Kurzskala (ASKU; Beierlein et al., 2012) erfasst. Sie besteht aus drei Items des Likert-Typs, bei denen die Befragten gebeten werden, ihre Zustimmung auf einer Antwortskala von 1-5 anzugeben. Die Antworten wurden anschließend gemittelt.
Soziale Teilhabe
Die Wahrnehmung der sozialen Teilhabe wurde mit der Kurz-Skala zur Erfassung wahrgenommener sozialer Teilhabe (KsT-5; Berger et al., 2020) erfasst. Es wurden die ersten fünf Items vom Likert-Typ verwendet, bei denen die Befragten gebeten werden, ihre Zustimmung auf einer Antwortskala von 1-4 anzugeben. Die Antworten wurden anschließend gemittelt.
Einsamkeit
Die Einsamkeit wurde mit der Drei-Item-Kurzversion der UCLA Loneliness Scale (Hughes et al., 2004) erfasst, wobei die deutsche Übersetzung der Items von Spitzer (2016) übernommen wurde. Der Gesamtwert setzt sich aus dem Summenwert der drei Items zusammen, der zwischen 3 und 9 liegen kann.
Lebenszufriedenheit
Die Lebenszufriedenheit wurde mit der Kurzskala Lebenszufriedenheit (L-1; Beierlein et al., 2015) erfasst. Die einteilige Skala hat einen Bereich von 0-10.
Körperbewusstsein
Abgesehen von den oben genannten physiologischen Effekten der Atmung, der Entspannung und der Körperkontrolle gibt es keine spezifischen Erwartungen hinsichtlich möglicher Veränderungen in der Wahrnehmung des eigenen Körpers durch das Gruppensingen. Auch sind der Autorin bisher keine empirischen Befunde zu diesem Thema bekannt. Da die Trainerin jedoch von positiven Körpererfahrungen aus ihrer Arbeit berichtete und somit die Erfassung körperlicher Veränderungen nahelegte, wurde dieser Aspekt in die vorliegende Studie aufgenommen. Da es keine etablierten Instrumente zur Messung der Körperwahrnehmung in einer für unsere Studie relevanten Weise gab, wurden in Zusammenarbeit mit dem Coach sechs Items formuliert: (1) Ich kann meinen Körper meist bewusst spüren. (2) Ich kann normalerweise spüren, wie es meinem Körper geht. (3) Ich spüre, wenn mein Atem eng wird und nicht mehr frei fließt. (4) Ich fühle mich in Kontakt mit meinem Körper. (5) Ich spüre, wenn sich mein Körper anspannt. (6) Ich spreche meist bewusst und spüre meinen Körper. Die Teilnehmer konnten ihre Zustimmung auf einer Antwortskala von 1-10 angeben. Die Antworten wurden anschließend gemittelt. Die Skala zeigte eine gute Zuverlässigkeit: Cronbachs Alpha = .79 bei der Vormessung und .90 bei der Nachmessung.
Die soziodemografischen Variablen Alter und Geschlecht wurden zum ersten Befragungszeitpunkt erhoben.
Gewünschte Mindesteffekte
Aus praktischen Überlegungen wurden konkrete Erwartungen an die Wirksamkeit des Gruppensingens abgeleitet. Effekte wurden als praktisch relevant angesehen, wenn sich die Antworten auf die Items zwischen den Beurteilungszeitpunkten um etwa einen Skalenpunkt veränderten, und zwar bei mindestens der Hälfte der verwendeten Items bei Instrumenten mit wenigen Skalenpunkten (d.h. vier oder fünf) bzw. um etwa einen Skalenpunkt bei allen Items bei Instrumenten mit vielen Skalenpunkten (d.h. 10 oder 11). Für die Likert-Items des PSQ zur Bewertung von Stress würde dies beispielsweise eine Änderung von „häufig“ zu „manchmal“ (d. h. ein Skalenpunkt von vier möglichen) bei mindestens 10 der 20 verwendeten Items bedeuten. Für die Lebenszufriedenheit, bei der die Antwortmöglichkeiten von 0 bis 10 reichen, wurde eine Veränderung von mindestens einem Skalenpunkt erwartet. Konkret erwarteten wir eine Veränderung von 16 Punkten auf dem PSQ, jeweils 0,5 Punkte auf der PANAS, der ASKU und der KsT-5 sowie einen Punkt auf den Skalen zur Erfassung der Lebenszufriedenheit und der Körperwahrnehmung. Bei der UCLA-Einsamkeitsskala wurde eine Verringerung um mindestens einen Skalenpunkt bei mindestens einem der drei Items erwartet. Eine Verringerung um einen Skalenpunkt war somit auch für den entsprechenden Summenwert zu erwarten.
ERGEBNISSE
Merkmale der Stichprobe
Von den insgesamt 74 Teilnehmern wurden die Daten von 45 Personen in die Studie aufgenommen. Personen, die an der zweiten Befragung nicht teilnahmen oder bei denen die beiden Identifizierungscodes nicht übereinstimmten, wurden von den endgültigen Analysen ausgeschlossen. Die eingeschlossene Stichprobe bestand aus 39 Frauen und 6 Männern, mit einer Altersspanne zwischen 20 und 75 Jahren (M = 49,5, SD = 11,5). Insgesamt wurden 15 Teilnehmer der Singgruppe, 14 der Diskussionsgruppe und 16 der Wartelistengruppe zugeteilt (siehe Tabelle 1). Neun Teilnehmer gaben an, noch nie ein Instrument erlernt oder Gesangsunterricht genommen zu haben; 15 gaben an, hobbymäßig ein Instrument erlernt oder Gesangsunterricht genommen zu haben, aber nicht regelmäßig zu üben, und 21 gaben an, seit mehreren Jahren regelmäßig Musik zu machen. Kein Teilnehmer gab an, eine professionelle Instrumental- oder Gesangsausbildung erhalten zu haben. Insgesamt 18 Teilnehmer hatten bereits Erfahrung im Chorgesang, und 6 nahmen während des Studienzeitraums an anderen chorischen Aktivitäten teil (siehe Tabelle 1).
Bei der wahrgenommenen Belastung wurde die erwartete Veränderung von 16 Punkten auf dem PSQ mit etwa 11 Punkten erreicht, wobei sowohl in der Singgruppe als auch in der Diskussionsgruppe ähnliche Effekte beobachtet wurden. In der Wartelistengruppe wurde keine Veränderung beobachtet. Obwohl die Ergebnisse auf eine deutliche Verringerung des subjektiv empfundenen Stresses in der Behandlungsgruppe hindeuten, könnte dies also nicht nur ein singenspezifischer Effekt sein, sondern auch durch Gespräche über Musik erreicht werden, wenn diese ebenfalls in einem Gruppensetting stattfinden.
Ein singenspezifischer Effekt wurde für die Variable positiver Affekt gefunden. In der Singgruppe wurde ein Anstieg des positiven Affekts um 0,4 Punkte beobachtet, was dem erwarteten Anstieg von 0,5 Punkten nahe kommt. Sowohl die Diskussionsgruppe als auch die Wartelistengruppe zeigten etwa halb so große Effekte, wobei der Anstieg des positiven Affekts in der Wartelistengruppe im Rahmen der vorliegenden Studie nicht erklärt werden kann.
Der negative Affekt nahm sowohl in der Gesangs- als auch in der Diskussionsgruppe in ähnlicher Weise ab, was wiederum auf einen nicht gesangsspezifischen Effekt hinweist. Der Effekt blieb deutlich unter der Erwartung und lag vielleicht an der Grenze der wahrnehmbaren Veränderung.
Der deutlichste gesangsspezifische Effekt wurde für die allgemeine Selbstwirksamkeit beobachtet, die in der Singgruppe zunahm und in den beiden Kontrollgruppen abnahm. Obwohl der Anstieg hier mit ca. 0,3 Punkten unter dem Erwartungswert liegt, sticht die positive Veränderung in der Singgruppe deutlich hervor und markiert einen interessanten Effekt: Da Selbstwirksamkeit als stabiles Persönlichkeitsmerkmal angesehen werden kann, das sich in der Regel über die Lebensspanne wenig verändert (Gecas, 1989), ist eine Veränderung ein vielversprechender Hinweis auf einen durch das Gruppensingen ausgelösten Wirkungsmechanismus.
Auch für das Gefühl der sozialen Teilhabe wurde ein singenspezifischer Effekt gefunden, mit einer Veränderung von etwa 0,3 Punkten. Der Effekt liegt zwar noch unter dem Erwartungswert, deutet aber auf ein großes Potenzial für einen interessanten Wirkmechanismus durch das Gruppensingen hin. Es überrascht vielleicht nicht, dass die Diskussionsgruppe ebenfalls eine – etwa halb so große – Verbesserung des Gefühls der sozialen Teilhabe zeigte. In der Wartelistengruppe wurde keine Veränderung beobachtet.
Die Verringerung der subjektiv empfundenen Einsamkeit war ebenfalls in der Singgruppe am stärksten und erreichte mit rund 0,9 Punkten fast den erwarteten Wert von 1,0 Punkten. Wie erwartet war der Effekt in der Diskussionsgruppe etwa halb so groß, in der Wartelistengruppe wurde kein Effekt beobachtet.
Was die Veränderung der Körperwahrnehmung betrifft, so zeigten die Singgruppe und die Diskussionsgruppe positive Veränderungen, die Wartelistengruppe eine negative Veränderung. Die ersten beiden Gruppen zeigten relativ starke Effekte, die auf deutliche Veränderungen bei einzelnen Items hinwiesen, erreichten aber nicht die erwartete Veränderung von etwa einem Skalenpunkt.
Der stärkste Effekt der Studie zeigte sich in einer Verbesserung der Lebenszufriedenheit in der Singgruppe, die mit 1,2 Punkten die Veränderungserwartung übertraf. Erwartungsgemäß wurde auch in der Diskussionsgruppe eine positive Veränderung festgestellt, die jedoch deutlich geringer ausfiel. In der Wartelistengruppe wurde kein Unterschied festgestellt.
DISKUSSION
Das gemeinsame Singen in einem Online-Amateurchor ist eine niedrigschwellige, angenehme und gemeinschaftliche Aktivität, die nachweislich eine Reihe positiver psychophysiologischer Effekte hat. In der vorliegenden Studie wurden diese Effekte systematisch in einem randomisierten, kontrollierten Prä-Post-Design untersucht. Für alle untersuchten Variablen wurden positive Effekte festgestellt, von denen einige spezifisch für das Singen in der Gruppe waren, während andere sich aus der Diskussion über Musik in einem Gruppenrahmen ergaben. Der Zeitpunkt der Datenerhebung war nicht zufällig gewählt: Die COVID-19-Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen der sozialen Distanzierung machten es notwendig, bestehende Chöre in ein digitales Format zu übertragen, und eine systematische Untersuchung der Potenziale einer Online-Singaktivität in dieser psychologisch herausfordernden und stressigen Zeit wurde als sehr wichtig erachtet. Unsere positiven Ergebnisse könnten nicht nur zur Quantifizierung der Auswirkungen des Amateursingens auf psychophysiologische Variablen beitragen, sondern auch die Grundlage für künftige Interventionen bilden, indem das Gruppensingen als Möglichkeit zur Bewältigung besonders belastender Situationen einbezogen wird. Schließlich handelt es sich beim Amateursingen um eine Intervention, die einfach und kostengünstig durchgeführt werden kann und zudem frei von schädlichen Nebeneffekten ist.
Im Folgenden fassen wir die Ergebnisse entlang der drei grundlegenden Funktionsdimensionen von Musik nach Schäfer et al. (2013) zusammen. Im Hinblick auf die Dimension der Selbstwahrnehmung wurden mögliche Veränderungen der Variablen positiver und negativer Affekt, Stress und allgemeine Selbstwirksamkeit untersucht. Der deutlichste singenspezifische Effekt zeigte sich bei der Variable allgemeine Selbstwirksamkeit. Da Selbstwirksamkeit eine zentrale persönliche Ressource zur Anpassung an belastende Umstände und Lebensereignisse darstellt, kann sie als Resilienzfaktor angesehen werden. Dies ist wohl das wichtigste Ergebnis der vorliegenden Studie. In diesem Ergebnis liegt ein großes Potential nicht nur für Angebote im Amateurbereich, sondern auch für musiktherapeutische Interventionen. Eine qualitative Untersuchung zeigte, dass intensive emotionale Erlebnisse beim bloßen Hören von Musik als Ressourcen in schwierigen Lebenssituationen genutzt werden (Schäfer et al., 2014). Aber auch jenseits von Krisen oder Stress ist eine hohe Selbstwirksamkeitsfähigkeit nachweislich ein Schlüssel zur Persönlichkeitsentwicklung und unterstützt die Verwirklichung persönlicher Ziele. Die Reduktion von Stress und negativem Affekt war sowohl in der Singgruppe als auch in der Diskussionsgruppe ähnlich. Obwohl dieser positive Effekt als praktisch nützlich angesehen werden kann, ist er nicht singenspezifisch. Dies schmälert jedoch nicht die Relevanz des Ergebnisses, da künftige Interventionen auch dann nützlich sein können, wenn sie nicht notwendigerweise Komponenten des Gruppensingens beinhalten. Dies deckt sich mit qualitativen Studien, die darauf hinweisen, dass gemeinsame Aktivitäten unabhängig vom Inhalt der gemeinsamen Aktivität einen „therapeutischen“ Nutzen haben können (Lamont & Ranaweera, 2020). Ein teilweiser gesangsspezifischer Effekt wurde auch bei der Zunahme des positiven Affekts beobachtet. Es kann nur spekuliert werden, warum dieser Effekt teilweise auch in der Wartelistengruppe beobachtet wurde: Vielleicht veränderte das bloße Wissen um die Teilnahme an einer Studie oder die Aussicht auf die Teilnahme am Online-Singen schon bald die Wahrnehmung der Teilnehmer. Darüber hinaus waren die Spitzenzeiten der Pandemie durch sehr schnell wechselnde Bedingungen, Informationen und Herausforderungen gekennzeichnet, so dass es während des vierwöchigen Zeitraums der Datenerhebung zu einigen Veränderungen der Ergebnisse gekommen sein könnte, die im Rahmen der vorliegenden Studie nicht erklärt werden können. Wie Xia et al. (2021) anhand von zwei 14-tägigen Tagebuchstudien nachwiesen, schwankte das COVID-19-induzierte Stressniveau stark, während die emotionale Variabilität deutlich zunahm. Der leichte Anstieg des positiven Affekts in der Wartegruppe könnte also auf eine solche zeitlich begrenzte Fluktuation zurückzuführen sein.
Hinsichtlich der Dimension der sozialen Verbundenheit beobachteten wir mögliche Veränderungen bei den Variablen Einsamkeit und soziale Teilhabe. Für die Verringerung der Einsamkeit fanden wir einen partiellen singenspezifischen Effekt, während der Effekt in der Diskussionsgruppe nur halb so groß war. Daher könnte das Singen in der Gruppe das Gefühl der Einsamkeit stärker reduzieren als der bloße soziale Austausch, möglicherweise weil das Singen ein „Produkt“ schafft, das nur gemeinsam bearbeitet werden kann und über den Einzelnen hinausgeht (Lamont & Ranaweera, 2020). Eine weitere Erklärung ist die mögliche Freisetzung von Oxytocin durch das Singen, wie in der Einleitung dargestellt. Ein teilweiser gesangsspezifischer Effekt zeigte sich auch für das Gefühl der sozialen Teilhabe, der in der Diskussionsgruppe nur halb so groß war. Wie bereits erwähnt, ist das Singen durch die gemeinsame Arbeit an einem gemeinsamen Produkt gekennzeichnet. Es kann argumentiert werden, dass die Variablen Einsamkeit und soziale Teilhabe zu den Variablen gehören, die für die Abschwächung oder spätere Heilung der Effekte sozialer Distanzierung von größter Bedeutung sind. Vor dem Hintergrund der hohen Zahl von Single-Haushalten in Deutschland ist Einsamkeit ein nicht zu unterschätzender sozialer Faktor, für den musikalische Angebote und Interventionen eine einfache und wirksame Möglichkeit für den Einzelnen darstellen, der sozialen Isolation zu begegnen. Über akute Krisenkontexte hinaus könnten diese Interventionen auch für die wachsende Gruppe älterer Menschen relevant sein, die aufgrund eingeschränkter Mobilität und des Verlusts von Freunden und Verwandten mit Einsamkeit und schwindenden Möglichkeiten der sozialen Teilhabe zu kämpfen haben. Obwohl sie oft nicht genutzt werden, bergen musikalische Angebote großes Potenzial für diese Bevölkerungsgruppe (siehe Castillejos & Godoy-Izquierdo, 2021; Schäfer & Riedel, 2018).
Im Hinblick auf die Dimension der Stimmungs- und Erregungsregulation wurden mögliche Veränderungen der allgemeinen Lebenszufriedenheit beobachtet. Es wurde ein sehr großer und partieller singenspezifischer Effekt gefunden, der in der Diskussionsgruppe nur halb so groß war. Das Ergebnis, dass Gruppensingen einen so großen Vorteil gegenüber Gruppendiskussionen erzielt, ist ein vielversprechendes Ergebnis. Wie oben eingeführt, wird die Lebenszufriedenheit von anderen Variablen beeinflusst, die durch das Singen selbst verändert werden können. Ein teilweiser singenspezifischer Effekt wurde für Einsamkeit und soziale Teilhabe festgestellt, was möglicherweise den Anstieg der Lebenszufriedenheit erklärt. Es kann auch argumentiert werden, dass in der Beziehung zwischen Gruppensingen und Lebenszufriedenheit eine teilweise vermittelnde Wirkung von Einsamkeit und sozialer Teilhabe bestehen könnte. Wie oben dargestellt, steht die Wirkung des Gruppensingens auf die Lebenszufriedenheit im Einklang mit den Ergebnissen früherer Studien.
Die Variable Körperwahrnehmung wurde auf der Grundlage der persönlichen Erfahrung des Gesangslehrers erfasst. Es kann argumentiert werden, dass diese Variable am ehesten mit der Dimension der Selbstwahrnehmung übereinstimmt. Die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers und des Atems veränderte sich in der Singgruppe und in der Diskussionsgruppe gleichermaßen, was auf einen mäßig starken Effekt hinweist. Wenn es hier einen substanziellen Effekt gibt – der in weiteren Studien, z.B. mit Hilfe geeigneterer, noch zu entwickelnder Instrumente, noch deutlicher isoliert werden müsste -, scheint er nicht auf das Gruppensingen beschränkt zu sein. Dennoch bietet dieser Effekt auch Potenzial für Angebote oder Interventionen, die nicht nur an den psychologischen, sondern auch an den physiologischen Variablen ansetzen, für die – wie oben gezeigt – derzeit nur sehr wenig Evidenz existiert.
Einschränkungen
Die vorliegende Studie wurde bewusst als Feldexperiment angelegt, um die Vorteile eines Experiments (hohe Kontrollierbarkeit und hohe interne Validität) mit den Vorteilen einer Feldstudie (hohe externe Validität und hohe Alltagsrelevanz; vgl. Habibi et al., 2022) zu verbinden. Mit dieser Studie wollten wir auch einen möglichen Weg für eine niedrigschwellige Intervention im Kontext einer aktuellen sozialen, wirtschaftlichen und persönlichen Krisensituation aufzeigen und bewerten. Obwohl unsere Ergebnisse vielversprechend sind, bleibt ihre Aussagekraft vorläufig. Eine Stichprobengröße, die letztlich eine robuste Verallgemeinerung der Ergebnisse erlauben würde, wurde hier nicht erreicht. Daher sind Replikationen und Erweiterungen des Designs erforderlich, ebenso wie der Versuch, repräsentative Stichproben für bestimmte Populationen zu generieren, möglicherweise differenziert nach Altersgruppen.
Das Design umfasste zwei Kontrollbedingungen, um die spezifische Wirksamkeit des Gruppensingens in absoluten Zahlen (gegenüber einer Wartelistengruppe) und in relativen Zahlen (gegenüber einer alternativen Behandlungsgruppe) zu quantifizieren. Die Gültigkeit der alternativen Behandlung hängt weitgehend von ihrem spezifischen Inhalt ab. Bei der Durchführung wurde großer Wert darauf gelegt, dass die alternative Behandlungsgruppe mit der Interventionsgruppe vergleichbar ist, wobei das Gruppensingen die isolierte Variable darstellt. Dennoch führt ein Gesangs- und Stimmtrainer vermutlich immer zu beratenden oder therapeutischen Effekten, auch wenn nur über Musik gesprochen wird und kein Gruppensingen stattfindet. Dies könnte z.B. die vergleichbaren Effekte auf die Körperwahrnehmung sowohl in der Behandlungs- als auch in der alternativen Behandlungsgruppe erklären. Zukünftige Studien sollten daher eine aktive Kontrollbedingung beinhalten, die von einer anderen Person angeleitet wird.
Etwa 40 % der Teilnehmer hatten bereits Erfahrung mit Chorsingen, und zwei Personen pro Gruppe waren in andere musikalische Aktivitäten außerhalb der Online-Singgruppe eingebunden. Wie bereits erwähnt (Daffern et al., 2021), könnten Personen, die vor der Pandemie in einem Live-Chor gesungen haben, frustrierende Erfahrungen gemacht haben, als sie plötzlich gezwungen waren, online zu singen, was möglicherweise zu abgeschwächten Effekten führt. Die Online-Singgruppe wurde jedoch als neues Angebot eingerichtet; es handelte sich nicht um eine Online-Fortsetzung eines ursprünglichen Live-Chores. Und, was noch wichtiger ist, keiner der offenen Kommentare der Teilnehmer deutete auf irgendwelche frustrierenden Erfahrungen hin. Vielmehr waren alle sehr froh, die Möglichkeit zur Teilnahme am Online-Singen erhalten zu haben.
Nicht zuletzt sollte der Begriff „Online-Singgruppe“ im Lichte dessen verstanden werden, was in der vorliegenden Studie konkret gemacht wurde. Die Online-Singgruppe unterschied sich von einem realen Chor dadurch, dass das gemeinsame Produkt, also das hörbare Ergebnis des gemeinsamen Singens, nicht vorhanden war. Chiu (2020) verwendet den treffenden Ausdruck „getrennt zusammen singen“, um diese spezifische Art des Singens zu beschreiben. Es fehlt also ein gewisses Element des gemeinsamen Erlebens oder der Co-Kreation (Daffern et al., 2021), was die Effekte gedämpft haben könnte. Es ist jedoch gut vorstellbar, dass sich Online-Singgruppen oder echte Online-Chöre in Zukunft zu einem eigenen Genre musikalischer Aktivitäten entwickeln werden – auch außerhalb von Krisen oder Sperrzeiten.
SCHLUSSFOLGERUNG
Die aktuelle Studie zeigt mittlere bis große Effekte einer Online-Gruppensingaktivität für Amateure über eine Vielzahl psychophysiologischer Variablen. Diese Effekte unterstützen und quantifizieren die (spezifische) Wirksamkeit von Gruppensingaktivitäten und liefern methodisch robuste Belege für den Nutzen von musikalischen Angeboten und Interventionen im nicht-klinischen Bereich, die innerhalb und außerhalb von Krisensituationen zugänglich sind.
DANKSAGUNG
Open-Access-Förderung ermöglicht und organisiert durch Projekt DEAL.
INTERESSENKONFLIKT
Der Autor erklärt, dass es keinen Interessenkonflikt gibt.
ETHISCHE ERKLÄRUNG
Die Studie wurde in Übereinstimmung mit der WMA-Deklaration von Helsinki und den ethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. und des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (https://www.dgps.de/die-dgps/aufgaben-und-ziele/berufsethische-richtlinien/) durchgeführt, die eine deutsche Adaption der „Ethical Principles of Psychologists and Code of Conduct“ (American Psychologist, 2002, 57, 1060-1073; Standards 3.10 und 8.01 bis 8.15) sind. Die Teilnehmer wurden über die Ziele und den Ablauf der Studie informiert und gaben ihr schriftliches Einverständnis zur Teilnahme und zur Verarbeitung ihrer anonymisierten Daten (siehe Seite 8).
ERKLÄRUNG ZUR DATENVERFÜGBARKEIT
Die Daten der vorliegenden Studie sind frei verfügbar unter https://osf.io/cpvs8/.
Hier geht’s zur Veröffentlichung im Original (englischer Sprache) inkl. Referenzen: https://iaap-journals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/aphw.12435
Hier eine Übersicht über die Ergebnisse unserer Studie.
Die 80 Teilnehmenden nahmen über 4 Wochen einmal wöchentlich beim Online-Singen teil.
Sie füllten vorab und nach den 4 Wochen einen Fragebogen aus:
Lebenszufriedenheit (gemessen auf einer Skala von 0 bis 10)
Gefragt wurde: „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben?“
Stress-Empfinden (gemessen auf einer Skala von 0 bis 100)
Erfasst wurde der subjektiv erlebte Stress im Alltag mithilfe von 20 Fragen
Selbstwirksamkeit (gemessen auf einer Skala von 1 bis 5)
Erfasst wurde die subjektive Überzeugung einer Person, etwas bewirken zu können, sich auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen zu können und Probleme gut meistern zu können mithilfe von drei Fragen
Körperwahrnehmung (gemessen auf einer Skala von 1 bis 10)
Erfasst wurde die bewusste Wahrnehmung von Körper, Atmung und Stimme mithilfe von sechs Fragen
Prof. Dr. Thomas Schäfer
Professur für Quantitative Forschungsmethoden
MSB Medical School Berlin
Hochschule für Gesundheit und Medizin
Dr. Thomas Schäfer ist Professor für Quantitative Forschungsmethoden in der Psychologie an der MSB Medical School Berlin. Er studierte Architektur in Leipzig, Psychologie und Philosophie in Chemnitz und lehrt seit 2005 Forschungsmethoden und Statistik in der Psychologie. In der Forschung entwickelt er psychologische Forschungsmethoden und Analyseverfahren weiter und beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen Musik nutzen, warum unterschiedliche Menschen unterschiedliche Arten von Musik bevorzugen und wie Musik auf Emotionen und Verhalten wirkt. Seine akademischen Stationen waren die TU Chemnitz, die Ohio State University, die Europa-Universität Flensburg und zuletzt die Medial School Berlin.
Warum sind Sie dabei?
Prof. Dr. Schäfer: „Meine Motivation mich wissenschaftlich mit Musik zu beschäftigen, lässt sich nicht besser ausdrücken als mit einem Zitat von Victor Hugo: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Für mich bedeutet das, die vielfältigen und oft unsagbar intensiven, emotionsgewältigen, rätselhaften und für viele Menschen metaphysischen Erfahrungen, die Musik auslösen kann, genau zu untersuchen, ohne aber dabei ihren Zauber auf Zahlen oder die Aktivierung von Nervenzellen zu reduzieren.“